Rodion Shchedrin im Gespräch mit Annakatrin Täuschel

"Was man schreibt, ist unantastbar"

Rodion Shchedrin im Gespräch mit Annakatrin Täuschel

Herr Shchedrin, zunächst eine grundsätzliche Frage zu Ihrem Selbstverständnis als Komponist: Fühlen Sie sich als "politischer" Komponist? Möchten Sie Ihr Publikum bilden, gar erziehen?

Absolut nicht. Das Wort "politisch" hat für mich einen negativen Beigeschmack; ich verknüpfe damit keine positiven Assoziationen. In Rußland herrscht nun seit 17 Jahren wieder Freiheit - künstlerische und intellektuelle Freiheit -, aber es gibt immer noch Komponisten, die wie früher ihre professionelle Existenz als Künstler mit politischem Kapital anzureichern versuchen. Übrigens nicht nur Komponisten, auch viele ausübende Künstler.

Da entstehen regelrechte Mythen - und Mythen haben generell eine große Macht und Kraft, denn die Menschen fangen an, an diese Mythen zu glauben. Und an denjenigen, der sie erschafft. Ich will nicht persönlich werden, aber es gibt viele Künstler mittleren Niveaus aus der ehemaligen Sowjetunion, die jetzt im Westen leben und verbreiten, man hätte sie damals fürchterlich unterdrückt, zum Beispiel, weil sie Juden gewesen seien. Aber Emil Gilels war auch Jude, ebenso Leonid Kogan, David Oistrach und viele andere. Wenn jemand dieses Argument also so offensichtlich benutzt, möchte er daraus politisches Kapital schlagen. Natürlich gab es in der Sowjetunion Antisemitismus - das ist unbestritten, und ich möchte das mit keinem Wort leugnen. Aber es gibt eben immer wieder Künstler, die daraus Mythen stilisieren, um aus ihnen politisches Kapital zu schlagen. In diesem Sinne möchte ich den Begriff "politischer Komponist" für mich ablehnen.

 

Möchten Sie, jenseits dieses politischen Aspekts, Ihrem Publikum dennoch etwas vermitteln, es anregen oder formen?

Ich fühle mich den Komponisten verbunden, deren Ideale Künstler wie Bach, Mozart, Beethoven oder Tschaikowsky sind. Hingegen fühle ich mich denn nicht verbunden, die etwa Boulez oder Stockhausen zu ihren Vorbildern zählen. Natürlich bin ich auch auf einige Werke dieser Künstler neugierig, aber ich vergöttere sie nicht.

Ich erinnere mich, daß Dmitrij Schostakowitsch jeden Morgen nur für sich allein ein Präludium und eine Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach spielte - als eine Art "geistiges Frühstück". Aber Bach hat mit seinen Werken keine Message, keine Botschaft vermittelt; er schrieb einfach nur Musik, die er in sich fühlte. In seinem Herzen, seiner Seele, seinem Körper und seinem Gehirn.

Bis zum heutigen Tag bin ich fest davon überzeugt, daß das Entscheidende für jeden Komponisten die Intuition ist. Problematisch wird es, sobald Komponisten dieser Intuition nicht mehr vertrauen, sondern musikalische "Religionen" wie den Serialismus, die Aleatorik, den Minimalismus oder anderes an diese Stelle setzen. Das führte in den letzten 25 Jahren zu einer regelrechten Diktatur der Avantgarde. Einer sehr starren, intoleranten, aggressiven Diktatur. Und die, die diesem Weg nicht folgen wollten, die nicht auf die Festivals fuhren, nicht nach Darmstadt reisten, diese Künstler existierten für die Avantgardisten überhaupt nicht. Sogar eine Größe wie Olivier Messiaen hat mir während des "Glenn Gould-Wettbewerbes" in Toronto, wo wir beide in der Jury saßen, gestanden: "Die Diktatur der Avantgarde hat mir 8-10 Jahre meines Schaffens geraubt."

Die Avantgarde hat natürlich auch Positives gebracht: eine neue Notationsform, eine neue Sicht auf das Orchester; auch die Aleatorik etwa beinhaltet viel Interessantes. Das möchte ich nicht leugnen. Und es ist unumgänglich und notwendig, sich damit auch auseinanderzusetzen. Aber dennoch hatte diese Avantgarde - wie jede Diktatur - auch viele schwerwiegende Folgen.

 

Haben sich diese Effekte Ihrer Ansicht nach auch auf das Verhältnis zwischen Komponist und Publikum ausgewirkt? Und wie ist Ihre persönliche Beziehung zu Ihren Hörern?

Viele zeitgenössische Komponisten haben den Kontakt zum Publikum vollständig verloren. Diese Komponisten komponieren für Komponisten, sozusagen für ein "Getto", für die kleinen Festivals, wo 50, 100 oder vielleicht 200 Menschen zuhören. Sie reisen von einem Festival zum nächsten, treffen sich immer wieder - und auch das Publikum ist immer das gleiche. Vergleichen Sie im Gegenteil dazu etwa den Mahler-Zyklus, den Lorin Maazel gerade mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der Philharmonie im Münchner Gasteig gegeben hat. Es war unheimlich schwierig, an Karten zu kommen! Und Mahlers Musik ist nicht einfach, vor allem nicht seine späten Werke. Aber sie basiert eben auf Inspiration, sie ist lebendig und berührt die Menschen. Man muß das Publikum mit der Musik überzeugen, anrühren. Und dieser Kontakt ging verloren, die Menschen fürchten sich vor zeitgenössischer Musik.

 

Ihr Elternhaus war sehr musikalisch und außerdem sehr religiös geprägt. Hat sich das auf Ihr künstlerisches Schaffen und Ihr Selbstverständnis als Komponist ausgewirkt?

Mein Großvater war ein russisch-orthodoxer Geistlicher, in einer kleinen Stadt namens Aleksin, ca. 200 km von Moskau entfernt. Mein Vater und seine Brüder erhielten also eine religiöse Erziehung und haben das geistliche Seminar absolviert. Auch meine Mutter war gläubig. Während Stalins Herrschaft war das sehr gefährlich und hatte für alle eine Menge Unannehmlichkeiten zur Folge. Mein Vater beispielsweise mußte nach dem 2. Weltkrieg das Konservatorium verlassen, an dem er unterrichtete, und hat auch in den folgenden Jahren einige Schrecken durchlebt.

 

Hat Ihnen Ihre religiöse Erziehung trotz aller Gefahren auch geholfen, den eigenen Weg zu gehen - als Künstler und als Mensch?

Vieles hängt natürlich vom Charakter eines Menschen ab. Es gibt Feiglinge, und es gibt Mutige. Es gibt Menschen, die ihre Meinung offen vertreten, und welche, die keine äußern. Auch ich hatte im Laufe meines Lebens einige heikle Situationen durchzustehen, z.B. habe ich die Briefe nicht unterschrieben, die den Einmarsch der sowjetischen Truppen 1968 in die Tschechoslowakei rechtfertigen sollten. Das war damals ziemlich mutig! Denn der Radiosender "Die Stimme Amerikas", den in der Sowjetunion jeder hörte, berichtete stündlich, daß zwei Dichter (Tvardovskij und Simonov) sowie ein Komponist (Shchedrin) ihre Unterschrift nicht unter diese Briefe gesetzt hätten. Natürlich ergaben sich daraus unangenehme Folgen für mich; sogar meine Frau Maija Plissezkaja, Primaballerina am Bolschoj-Theater, bekam das zu spüren. Bei all dem hilft der Glaube schon; der tiefe und wahre Glaube, nicht die religiösen Formalitäten, die es wahrscheinlich aber auch geben muß. Das eigene Ich, das Gewissen, die Seele sind dein Schicksal und sagen dir, was gut und was schlecht ist. So denke ich und so ist auch mein Charakter, den ich natürlich nicht ändern kann. Dadurch hatte ich in meinem Leben immer viele Freunde - wirkliche Freunde, die mit mir durch Feuer und Wasser gingen -, aber auch viele Feinde!

Ich war auch noch nie besonders diplomatisch, immer ziemlich gerade heraus. Meine Frau schimpft deswegen oft mit mir, rät mir, vorsichtiger zu sein oder auch mal zu schweigen - aber das kann ich eben nicht, ich möchte ja etwas erreichen!

 

Wie sind Sie mit den Schwierigkeiten umgegangen, die sich aus dieser Geradlinigkeit und Direktheit für Sie ergaben. Wie haben Sie reagiert, in künstlerischer und menschlicher Hinsicht?

Das Leben in der Sowjetunion bedeutete immer, daß man Kompromisse machen mußte. Ständig, bei Kleinigkeiten, manchmal auch bei wichtigeren Angelegenheiten. Aber was mein künstlerisches Schaffen angeht, da gab es für mich nie Kompromisse. Was man schreibt, hat absolute Gültigkeit und ist - sozusagen - unantastbar. Schostakowitsch zum Beispiel ist in seinem Leben viele Kompromisse eingegangen, aber nie in der Musik! Für ihn war das wahre Leben die Musik; der Rest etwas Vergängliches, mit dem man sich arrangieren mußte.

 

Entscheidend für Sie war also die Aufrichtigkeit gegenüber der Kunst, dem eigenen Schaffen, weniger Ihre persönlichen Lebensumstände?

Ja, und ich sage Ihnen noch etwas ganz Wichtiges: Der Mensch muß immer auf seine innere Freiheit bauen. Auf die Freiheit, die dir niemand gibt, die du aus dir selbst heraus schaffen mußt! Wenn man diese Freiheit nicht besitzt, egal in welchem politischen System, ist man kein Künstler. Aber nochmal zurück zu den Kompromissen: Jetzt, wo ich das westliche Leben mitlebe und miterlebe, fällt mir auf, wie viele Kompromisse die Menschen hier eingehen - aber eben nicht in prinzipiellen Dingen. Denn der Mensch ist ja schon biologisch darauf ausgerichtet, sich selbst zu erhalten.

 

Aber dennoch haben ja in der Sowjetunion auch noch zur Regierungszeit von Chrushchov und Brezhnev viele Künstler unter immensem Druck, auch unter Benachteiligung gelitten, ihre Werke wurden teils nicht aufgeführt...

Dieses Jammern, diese Tränen heute! Künstler, die behaupten, keine Freiheit gehabt zu haben - das alles sind doch Mythen! Und leider sind viele westliche Kritiker und Musikwissenschaftler so leichtgläubig, das alles hinzunehmen und sogar weiterzuverbreiten. Aber alle diese Menschen, die heute immer noch jammern, waren damals offizielle Mitglieder des Komponistenverbandes der UdSSR. Sie bekamen kostenlos Wohnungen, Ferienaufenthalte, um zu arbeiten, sie unterrichteten an den Konservatorien, ihre Werke wurden aufgeführt - vielleicht nicht jeden Tag, aber sie wurden gespielt. Diese Menschen sind keine wirklichen Dissidenten! Sie hätten austreten können aus dem Komponistenverband, sie hätten sich verweigern können, aber das hat keiner getan. Und heute versuchen sie, aus der politischen Situation Kapital zu schlagen. Die wahren Dissidenten waren andere: Sacharov oder die sieben mutigen Demonstranten auf dem Roten Platz, die nach fünf Sekunden verhaftet wurden!

Ein weiterer Mythos ist die Filmmusik. Jeder in der Sowjetunion hat Musik für den Film komponiert, denn das war die einzige Arbeit, die gut bezahlt wurde. Für Sinfonien oder Opern bekam man viel zu wenig. Vom Honorar für meine Oper Die toten Seelen beispielsweise habe ich nach der Uraufführung ein Bankett für alle Beteiligten gegeben. Damit war der Verdienst aufgebraucht - und gelebt haben wir von der Filmmusik! Und genau das taten - übrigens keineswegs schlecht - auch diejenigen Komponisten, die heute noch immer ihre leidvolle Situation von damals beklagen. Alle fuhren in den Urlaub, jeder hatte eine Datscha, Mahlzeiten gab es oft umsonst, auch Arbeitsmaterial; aber heute wird das absichtlich vergessen. Sogar Alfred Schnittke, über den ich an sich nichts Schlechtes sagen möchte und mit dem ich gut befreundet war, hat einst den Lenin-Preis ausgeschlagen, weil er befürchtete, daß dieser seinem Image schaden könnte. Schostakowitsch und Prokofjew hingegen haben zu ihren Stalin-Preisen gestanden, denn das Leben war damals eben so verrückt, daß man in einem Moment kritisiert und im nächsten schon wieder gefeiert wurde.

 

Woran liegt es dann Ihrer Ansicht nach, daß diese "Mythen" knapp zwei Jahrzehnte nach der Perestroika immer noch existieren, noch funktionieren?

Das Problem liegt darin, daß viele westliche Kritiker sich mit der Sache nur sehr oberflächlich beschäftigen und die Dinge nicht differenziert genug betrachten. Ich begegne auch immer wieder Musikwissenschaftlern oder anderen Spezialisten, die sich mit der Materie beschäftigen, ohne die russische Sprache zu beherrschen. Aber wie kann man einen so komplexen Sachverhalt untersuchen, ohne russisch zu können, ohne das Land zu kennen? Viele schreiben auch einfach ab, was sie anderswo lesen und tradieren damit auch zugleich die Mythen - aber das ist keine Wissenschaft!

Wir brauchen endlich Wahrheit, nicht immer dieses Schwarz-Weiß-Denken, das ich im Westen so oft erlebe. Alles muß auf den Tisch, nichts darf verschwiegen werden. Schostakowitsch hat fünf Stalin-Preise bekommen, Prokofjew sogar sechs (und beide noch nicht mal für schlechte Werke, sondern für die besten) - das ist Fakt! Deswegen bitte ich die westlichen Kritiker: Haben Sie ein wirkliches Interesse an der ganzen Wahrheit!

 

Haben Sie zu Zeiten der Sowjetunion jemals darüber nachgedacht, ähnlich wie etwa Mstislav Rostropovitch und Galina Vishnevskaja Ihre Heimat zu verlassen? Was bedeutet Ihnen Rußland, was verbinden Sie damit?

Ich denke, ich bin ein Teil Rußlands, auch ein Teil des musikalischen Rußlands. Rußland bedeutet mir unglaublich viel, aber es hat sich verändert; vor allem in den großen Städten Moskau und St. Petersburg. Das Schlimmste, was die Diktatur - abgesehen von den Millionen Opfern - angerichtet hat, ist, daß sie die menschliche Seele ausgelöscht hat. Das System war vor allem für die ordentlichen Menschen hart; die schlechten hatte es leichter, weil Lügen und Betrug ganz normal waren. Zerstören geht leider leichter als wiederherstellen, aber mein Wunsch, mein Traum für das heutige Rußland wäre trotzdem, daß die einfachen Menschen wieder angenehmer leben könnten! Denn das Leben ist für die meisten von ihnen komplizierter und schwieriger geworden.

Natürlich verbinde ich mit Rußland auch seine Sprache, eine überaus reiche, vielfältige Sprache mit vielen Synonymen, die es in anderen Sprachen nicht gibt. Im Gegensatz dazu war die sowjetische Sprache natürlich grauenvoll!

Und ich verbinde mit Rußland seine literarische Tradition: Puschkin, Leskov, Gogol, Tolstoj... ein phantastischer Reichtum!

Ich selbst bin ganz einfach Rußlands Sohn - und möchte mich von diesen Wurzeln auch niemals lösen. Und mein Blick in die Zukunft ist nicht zu düster, denn endlich haben wir mit Putin einen gebildeten, intelligenten Präsidenten, der das Land auch anführen kann.

 

Kehren wir noch einmal in die Vergangenheit zurück: 1973 wurden Sie auf Wunsch von Schostakowitsch sein Nachfolger als Vorsitzender des sowjetischen Komponistenverbandes. Eine offizielle Funktion innerhalb eines Systems, das Ihnen zuwider war, dem sie zumindest nicht freundlich gesinnt waren. Wie ist Ihnen dieser Spagat gelungen?

Dazu muß man zunächst unterscheiden und wissen, daß es zwei Organisationen gab: Den Komponistenverband der gesamten UdSSR, dessen Vorsitzender die ganze Zeit hindurch Tichon Chrennikov war, und den russischen Komponistenverband, der unter Chrushchov auf Initiative von Dmitrij Schostakowitsch gegründet wurde, in demselben Haus, in dem er lebte. In diesem Verband herrschte ein anderer Blick auf die Musik, ein toleranterer, offenerer, selbständigerer Blick. Schostakowitsch stand dieser Organisation bis 1973 vor und prägte deren Erscheinungsbild natürlich allein schon durch seinen Namen. Hinter seinen breiten Schultern - die er physiologisch ja gar nicht hatte - entwickelte sich eine verhältnismäßig fortschrittliche und liberale Organisation von Komponisten, Musikwissenschaftlern und Künstlern. Schostakowitsch hat allen diesen Menschen, so weit er konnte, geholfen. Als er gegen Ende seines Lebens sehr krank wurde, habe ich diese Verantwortung auf seine Bitte hin gern übernommen. Es war eine Ehre für mich, seine Arbeit dort fortzusetzen. Außer Gutem habe auch ich den Menschen nichts getan - aber leider ist es eine Ureigenschaft des Menschen, das Gute zu vergessen.

 

Die Position des Vorsitzenden des russischen Komponistenverbandes also hatte erstaunlich wenig Bürokratisches, Verwalterisches an sich. Bekanntlich war das in Ihrer bisherigen Laufbahn die einzige offizielle Funktion, die Sie ausübten. Gab es weitere Angebote?

Ja, man hat mich immer wieder - und noch vor kurzem - gebeten, Direktor des Moskauer Konservatoriums zu werden. Wenn ich also im Sessel eines Direktors sitzen wollte, könnte ich das haben. Sogar Kultusminister sollte ich werden; bis in meine Münchner Wohnung hat Boris Jelzin mir deswegen hinterher telefoniert. Das war 1991/92. Darüber hinaus bot man mir immer wieder auch den Posten des Direktors des Moskauer Bolshoj-Theaters an. Wenn ich also Bürokrat oder Verwalter hätte werden wollen, und die Musik nur Mittel zum Zweck gewesen wäre, hätte ich in meinem Leben viele attraktive Möglichkeiten wahrnehmen können. Für einen normalen Menschen wäre das wahrscheinlich sogar angenehm gewesen; für mich war zeitlebens etwas anderes wichtig: das Komponieren!

 

Wie ist Ihr Verhältnis zur Musikkritik, zu Ihren Kritikern im speziellen? Lassen Sie sich durch deren Urteile beeindrucken, vielleicht sogar beeinflussen?

Wenn jemandem meine Musik nicht gefällt, bin ich nicht böse. Oft ändert sich die Situation schnell; ein Werk mißfällt, das nächste findet Zustimmung. Wenn allerdings jemand aus Unwissenheit oder - wie vorhin erwähnt - Oberflächlichkeit irgendwelche Klischees bedient, Unsinn erzählt, dann ärgert mich das selbstverständlich.

Beeinflussen lasse ich mich von der Meinung eines Kritikers allerdings nicht. Daß ich ein Werk aufgrund einer Kritikermeinung ändere, so etwas kommt bei mir nicht vor. Was geschrieben steht, bleibt; alles andere halte ich für unprofessionell. Ich bin als Künstler und als Mensch so veranlagt, daß ich lieber vorher lange über etwas nachdenke; wenn ich es aber aufschreibe, hat es Bestand. Die Komposition beginnt dann ihr eigenes Leben. Ich möchte die Möglichkeit des Revidierens damit nicht kategorisch ausschließen, aber mir ist so etwas bislang noch nie passiert!

 

Sie waren - im Gegensatz zu vielen anderen sowjetischen Künstlern - nie Mitglied der KPdSU. Was hat diese Hartnäckigkeit, diese Verweigerung gekostet?

Zu meiner Zeit war das schon nicht mehr ganz so schlimm; hart, aber nicht mehr lebensgefährlich. Aber es gab natürlich ständig Probleme und Fragen; bei jedem Antrag, jedem Formular. Ich hatte immer ein gutes Argument, weil ich ja aus einer religiösen Familie stammte. Wenn man mich für die Partei gewinnen wollte, wand ich mich immer mit den Worten: "Wissen Sie, ich bin dazu einfach noch nicht bereit, ich kann noch nicht. Jeder Mensch hat doch Fehler, und meiner ist eben, daß ich gläubig bin." Heute erzähle ich Ihnen das mit einem Lachen, damals allerdings war es natürlich keineswegs lustig.

 

Wie empfinden und beurteilen Sie Ihre momentane künstlerische Situation? Sie leben an drei verschiedenen Orten parallel, in München, Moskau und in Litauen. Wirkt sich das auch auf Ihr Schaffen aus?

Ich bin im Moment vor allem glücklich. Seit 1993 habe ich einen Vertrag mit dem Schott-Verlag und mein Werkverzeichnis belegt, daß ich in diesen vergangenen neun Jahren über 30 neue Kompositionen geschaffen habe. Eine erstaunliche Zahl, die zeigt, daß die Bedingungen um mich herum hervorragend sind. Die Musik und das Komponieren sind mein Lebensmittelpunkt, egal, wo ich bin. Und ich schaffe weiter, frei nach dem Motto eines russischen Dichters: "Besser man ist eifersüchtig auf dich, als daß man dich bemitleidet."

 

Wie beurteilen Sie die momentane Situation für die nachfolgende russische Komponistengeneration? Nutzen die jungen Künstler die neue Freiheit?

Der Blick in die ferne Zukunft verspricht sehr viel Positives! Was allerdings die unmittelbare Zukunft betrifft, sieht es schrecklich aus. Für die jungen Künstler ist es wahnsinnig schwer; sie haben keine Mittel, müssen alles selbst bezahlen, die Abschriften, die Kopien der Partituren, die Musiker, die Saalmieten... Früher bezahlten das alles der Staat und der Komponistenverband, heute sind die jungen Leute deswegen auf der Suche nach Sponsoren. Und die, die keine finden, wandern in Scharen aus. Das ist bitter!